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 weitere Ausstellung: Stadtbibliothek Mainz: "Jahre, Jahre."   Exhibition at the Library of the city of Mainz: "Jears. jears."   

 

Ausstellung im Klingspor Museum Offenbach

vom 20.4. - 3.6. 2007

 

Die Spur der Anderen

Die Installation entstand aus der Arbeit zum Künstlerbuch "abgeklatscht", das Sie hier finden.

Diese Arbeit führte mich ein Jahr später direkt zur Ausstellung "Indiskret" in der Zentralbücherei Frankfurt.

 

                Das 3 m lange Seidenbild der Anderen bildet das Entree in die Ausstellung. Für "die Spur der Anderen" habe ich Motive aus meinem Künstlerbuch "abgeklatscht"  mit einem speziellen Verfahren auf 0,5er Pongé-Seide gedruckt.  Die Leichtigkeit dieser Seide verleiht den Fotografien eine immaterielle Anmutung, welche dem Thema der Spurensuche innerhalb der Zeit entspricht. 

        

Nicht zufällig steht die Andere in einem verschneiten Wald. Obwohl sie friert, hält sie mit einem sanften Lächeln für den Fotografen still. Sie wird für kurze Zeit Spuren hinterlassen haben, soviel jedenfalls ist gewiss.                                                                          

 

 

...die Andern, die man nicht mehr sieht

(...) 
weil sie wehen unter dem, was weht, 
und vergehen, wenn der Ton vergeht. 

Rilke: "Musik"

 

 

Gesichter begegnen Ihnen beim Besuch dieses Raumes. Was aber haben Portraits in einem Schriftmuseum verloren? 

 

Die Hinwendung zum Gesicht in meinem Arbeiten ist eine Hommage an Emmanuel Lévinas, der uns auffordert, im Gesicht des Anderen nicht nur die Mimik zu lesen, sondern im Gesicht das Antlitz zu erkennen. Das Antlitz als Tor zu einer Dimension, die sich unserer herkömmlichen „Bemächtigungsdynamik“ entzieht. „Der Andere ist zugänglich als Nächster, als Antlitz“ (Lévinas in „Die Spur des Anderen“).

Aber ich sehe ein Tor oder vielleicht auch nur ein Schlupfloch hin zum Anderen auch in der persönlichen Handschrift. Aus diesem Grunde stelle ich in meiner neuen Arbeit den Portraits immer Handschriften zur Seite. Die individuelle Handschrift, ihr textlicher Gehalt und das Portrait, sie alle gemeinsam zeichnen das Bild einer imaginären Person, die nicht zuletzt in uns selbst auffindbar ist.

Schrift ist in meiner Arbeit selten alleiniger Träger der künstlerischen Aussage. Stets ist sie unverzichtbarer Teil.

 

 

„Bin ich sie alle? Bin ich ein einziger und unterschieden? Ich weiß es nicht. Wir haben hier zusammengesessen, jetzt aber sind wir geteilt; wir sind nicht hier. Doch ich finde kein Hindernis, das uns trennt. Es gibt keine Trennlinie zwischen mir und ihnen. Dieser Unterschied, von dem wir so viel hermachen, diese Identität, die wir so fieberhaft hüten, ist überwunden“ (Virginia Woolf in „Die Wellen“).

Was ist das, gleich nebenan?

Gleich dort drüben?

Ach, ich dachte, ich sähe dort jemanden.

Jemanden, der dir sehr ähnelte.

 

Inwieweit können wir teilhaben an dem, das nicht wir sind. Wieweit das Gefängnis des Ich verlassen und den Anderen finden? Jeneone other living soul“, die Samuel Becketts (weibliche) Figur in „Rockaby“ verzweifelt zu erspähen versucht. Vielleicht ist es uns (nur) in der Kunst möglich, das Land des Anderen zu betreten - vorsichtig und waffenlos. 

„Nadie puede ignorar / la presencia del que vive“ 

( Niemand kann missachten / die Gegenwart dessen, der lebt.)

                                        Vicente Aleixandre, 1935 

 

Wir teilen es mit.

Wir vergessen, es mitzuteilen.

Es wird sein, als wäre es nie gewesen.

So wird es sein.

 

Sind wir Lieder,

die die Kinder zu singen vergaßen?

 

Das Lächeln am Dreh- und Angelpunkt eines Lebens. Paare, an ihrem Hochzeitstag aufgenommen. 

Was würde die einstmalige Braut rückblickend zu ihrem Hochzeitsbild notieren? 

Mit dem Wissen der durchlebten Zeit - würde sie ein Urteil fällen? 

Dann würde sie wissen, ob ihre Liebe scheiterte oder glückte. Ob der Tag seine Versprechen einlöste. 

Sie würde wissen, wie es endete.

 

Nicht eine meiner Seelen

Wohnte je bei dir.

Nicht eine hast du je gefragt.

Die Finger stecken

durch die schwarze Mauer Nacht.

Leben tut im Innern so weh,

ohne die Haut aus Du.

 

Im Ende verlassen stehn.

Auf einer Handfläche ausgebreitet,

wie Muscheln zum trocknen,

die Dinge, die wir richtig gemacht.

 

 

 

 

Die Spur der Handschrift in der Zeit ist wie die auf- und abwandernde Linie des Hochspannungskabels während einer Eisenbahnfahrt: Wir sehen sie aus unserem Abteilfenster, den Blick an ihr zurück gespannt - manchmal, im Umwenden, auch ein Stück voraus - und bleiben selbst dabei in unserem Abteil sitzen, das wir nicht verlassen können. 

Mehr Gedanken zur Handschrift finden Sie hier.

_________________________

 

Dieses Motiv stammt aus dem Künstlerbuch "Samurai-Requiem", das sich mit dem Sterben und dem Zurückbleiben befasst. Die Maske aus einer Ausstellung historischer Samurai-Rüstungen erinnert an Totenmasken und an die Fratze des Todes. 

- Denn der Tod hat kein Gesicht, kein Antlitz.

 

 

 

Samurai-Requiem

2007 Transparent-Zeichenpapier, Inkjet-Druck

 

Deine Schritte entfernen sich.

Weit überm Bügel des Horizonts

treten die Krieger nach den Sternen.

Sie schwingen sich auf kahlgeschorene Rösser

und lösen sich im Dunkel auf.

Leis glitzern noch die Helme – ein Funkeln unterm Lid.

 

Lege deinen Bogen hin und alles,

was so scharf in deinen Händen wohnt.

Ich bin es, die dich darum bittet.

 

 

Behutsam, mit Netzen aus Seide, die Gesichter aus der Zeit heben, bevor ein Windhauch sie wieder versenkt. 

 

Die kleineren Seidendrucke sind im offenen Viereck installiert, so dass man sich wie in einem Raum im Raum vorkommt. Im Innern stehend, sind die Bilder  und Schriften spiegelverkehrt. Nur von außen sind sie konkret lesbar. 

 

 

 

Das „dich“ zieht durch Schluchten und Höhlen.

Ich aber finde es immer wieder,

denn es glitzert an den Wänden.

Mit meinen Fingerspitzen streiche ich über den Stein.

Große Quader breche ich heraus.

 

Hier drinnen herrschen andere Regeln.

 

Der Seiden-Raum öffnet sich zum Todesmotiv hin. Es scheint in vielen Durchblicken immer wieder auf, randständig und gleichzeitig omnipräsent.

 

Liebe Mama,

ich weiß nicht, wohin meine Worte gefallen sind,

welche Gefäße sie durchquerten,

welche Wurzeln sie in den Schlamm schlugen.

Ich kann sie nicht mehr finden, Mama,

komm doch, und hole mich hier weg.

 

 

 

Bodyprint: "Therese"

 

All die Ringe in deinem Gesicht.

Ich tauche nach ihnen schon so lange Zeit.

Du fängst sie nicht ein.

Du fängst sie.

 

 

 

 

Das Buch "Jahre, Jahre." ist in einer Vitrine ausgestellt. Es darf in dieser Thematik nicht fehlen. Bitte bei den Künstlerbüchern danach schauen. Ebenso nach dem Buch "Über all meinem Erzählen" und dem "Samurai-Requiem".

 

                         

 

 

Elisabeth

2002, Flaschenbodenstempel, Handschrift mit Bleistift von Elisabeth Brabänder

 

10 wird man als kleines Kind gerufen

11 wird man ohne weiteres

12 wird man später gerufen

12 oder gar nicht

13 wird man gerufen, wenn´s zu spät ist

 

 

                

 

  Detail

 

 

 

 

Spiegelschrift

2007, Edding

 

Als wäre das Zugehen auf den anderen

mein Zusammentreffen mit mir

und eine Einpflanzung in nun mehr heimatliche Erde,

befreit vom ganzen Gewicht meiner Identität.

 

Emmanuel Lévinas: „Eigennamen“

 

(ohne Abbildung)

 

 

 

                                      

 

Ich weiß nicht, was sich verändert hat.

Doch kaum sehe ich auf, schon fließe ich 

durch meine Augen davon.

Fort, zu schillernder Ahnungslosigkeit,

leuchtender Bilderlosigkeit.

Gebt mir doch den wieder, den ich nie hätte

verlieren dürfen!

 

 

Alles hat einen Aus-Punkt,

einen An-Punkt.

Wir fragen den gelben Marienkäfer,

manche nennen ihn Glückskäfer.

Frage ihn!

Seine beiden Punkt

Werden dir Rede

und Antwort stehen.

 

(Aus dem Buch "Über all meinem Erzählen". 

Ein Vorwort hierzu von Dr. Siglinde Hohenstein finden sie hier. )

 

 

 

 

 

 

 

bei der Eröffnung

 

 

 

Eine Installation des Tuches "Die Andere" im Wald

sehen Sie hier

 

 

Eine 15-min.Video-DVD zur Ausstellung können Sie bei mir zum Selbstkostenpreis (5,- €) anfordern.

Das zur Ausstellung gehörende Künstlerbuch sehen Sie hier

Die hier entwickelte künstlerische Methode der Annäherung kann unter Umständen auch ein taugliches Instrument der Trauer- und Erinnerungsarbeit sein.

Aufträge in diesem Bereich habe ich schon ausgeführt. Bitte fragen Sie unverbindlich an.

 Spurensuche

Reflexionen zu „Die Spur der Anderen“[1] der Künstlerin Tanja Leonhardt

von Peter Kropp

 

Keine Einführung

Wege und Spuren

 

Die Schriftkünstlerin Tanja Leonhardt hat im Eingangsbereich des Klingspor Museums in Offenbach im Rahmen der Ausstellung „Schrift Berührt“ die Installation „Die Spur der Anderen“ errichtet. Dabei zeigt sie Fahnen aus transparentem Stoff, auf denen Photographien von Paaren zu sehen sind. Dazu hat sie eigene Texte verfasst. Die Bilder der unbekannten Personen hat sie im Internet ersteigert und auf Seide gedruckt. Ihre Arbeit bezieht sich auf Gedankengänge des französischen Denkers Emmanuel Lévinas, der in seinem Text „Die Spur des Anderen“ das Phänomen des Menschen in seiner Andersheit und Fremdheit thematisiert. In der Installation geht es darum, wie man sich von einem anderen Menschen ein visuelles und schriftliches Bild machen kann und welche Rolle dabei Erinnerung, Zeit und Vergänglichkeit spielen. Der transparente Raum lässt dabei viel Spielraum für Gedankengänge und Fragestellungen, die hier andeutungsweise angedacht werden sollen.

 

Eine sogenannte Einführung als Wegbeschreibung zu den Arbeiten der Künstlerin Tanja Leonhardt verbietet sich nicht eben, ist aber insofern für den Beobachter zunächst riskant, als jeder Versuch einer zeitlichen und räumlichen Definition[2] zu diesem Werk sich in Spuren und Wegverästelungen zu verlieren droht. Ihre Arbeiten sind in einem Werkganzen nicht zu definieren und somit keinesfalls einzugrenzen. So fordert eine Arbeit wie „Die Spur der Anderen“ eine Herangehensweise heraus, die sich der Zumutung im Kontext einer doppelten Reflexion[3] stellen sollte. Gefordert ist eine nicht lineare Spurensuche, die den Gang einer Betrachtung hinsichtlich zeitlicher und örtlicher Koordinaten auszuloten versucht. Auf diesem Weg wird nur eines relativ schnell klar, nämlich, dass mehr Fragen aufgeworfen als Antworten gegeben werden. Die Installation „Die Spur der Anderen“ entzieht sich einer klaren Darstellung und bedarf ästhetischer Reflexionen und Fragestellungen.

 

Besonders Fragen gegenüber der Installation und ihrer Ausführung sollen dabei kurz in den Anmerkungen einen Weg markieren, der sich zwischen dem Medium der einst privaten Photographie hin zu einer öffentlichen Wiedergabe und Abbildung im Internet und der nachträglichen Beschriftung durch die Künstlerin zu einer intimen Botschaft im öffentlich zugänglichen musealen Raum bewegt. Die andere und wohl als unendliche zu bezeichnende Spur bezieht sich auf die Gedankengänge von Emmanuel Lévinas und eine Möglichkeit der Übersetzbarkeit und Übertragbarkeit seiner Untersuchungen in der Bearbeitung von Tanja Leonhardt. Das Beziehungsgeflecht zwischen der Ökonomie einer Gabe, der Schrift als Botschaft ohne bestimmende Botschaft und der einer unendlichen Reflexion über mögliche ethisch-ästhetische Überlegungen im Wechselspiel zwischen Kunst, Schrift und Philosophie werden Wegbegleiter dieser letztlich und endlich nicht abzuschließenden kurzen Gedankengänge sein.

 

Eine Poetik des Antlitzes

Spuren  der und des Anderen

 

„Gesichter begegnen Ihnen beim Besuch dieses Raumes. Was aber haben Portraits in einem Schriftmuseum verloren? Die Hinwendung zum Gesicht in meinen Arbeiten ist eine Hommage an Emmanuel Lévinas, der uns auffordert, im Gesicht des Anderen nicht nur die Mimik zu lesen, sondern im Gesicht das Antlitz zu erkennen. Das Antlitz als Tor zu einer anderen Dimension, die sich unserer herkömmlichen „Bemächtigungsdynamik“ entzieht.“[4]

 

Tanja Leonhardt ist Schriftkünstlerin, gleichwohl arbeitet sie ebenso mit Bildmedien und weist auf die Gleichwertigkeit von Schrift und Bild in ihrem Werk hin. Erst dadurch entstehen diese Schriftbilder, die aus den Koordinaten einer gewohnten linearen Zeit- und Raumvorstellung herausfallen. Besonders die Entstehung der Installation ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert. Die Bilder ihrer Installation hat sie dem Internet entnommen, einem Medium, das weltweit für grenzenlose Kommunikation im Sinne einer fortschrittlich orientierten Gesellschaft steht.[5] Die Photographien stammen aus längst vergangenen Zeiten der letzten zwei Jahrhunderte und der Betrachter fragt sich zunächst, wer könnte der Absender, wer der Empfänger dieser hier vorläufig als Abbildung titulierten Bildbotschaften sein? Die Künstlerin hat diese Photos, bei denen es sich um Paare handelt, die an ihrem Hochzeitstag aufgenommen worden sind, auf Seide gedruckt und in den Räumen des Klingspor Museums als rechteckigen Erinnerungsblock gehangen.

 

Durch ihre großformatige Überarbeitung auf ein räumlich begrenztes Medium im musealen Bereich wird verdeutlicht, dass die für uns inzwischen als anachronistisch wirkenden Abbildungen in und durch ihren Entstehungsprozess näher wirken können, als es ein Bildschirm mit nachträglichen Bearbeitungsmöglichkeiten im Internet jemals wiedergeben könnte. Das betrifft besonders die Mimik und Gestik der Abgebildeten und unsichtbar im Hintergrund die des Photographen als eines Handwerkers und Technikers, der die Anweisungen zum möglichen Gelingen der Bilder gegeben hat. Offen bleibt, welche Wünsche und Hoffnungen der Abgebildeten erfüllt, welche enttäuscht wurden und ob die abgebildeten Menschen glücklich geworden sind. Man beginnt sich gedanklich vor dem Erinnerungsraum zurückzubiegen, die Reflexion setzt ein und es fragt sich, was in den Gesichtern zu lesen ist. Damit verliert der Betrachter sich zunächst in den verschiedenen Spuren der abgebildeten Anderen und stellt sich dann Fragen über seine eigene Geschichte. Allgemeines und Besonderes vermengen sich in der Installation, Begriffe wie Erinnerung und Gedächtnis stehen neben dem Betrachter und stellen Fragen, die Zeit scheint aufgehoben, man blickt zurück auf die erste Abbildung, die in dem Entree der Ausstellung etwas abgelegen von der Rotunde der Paare zu sehen war. Es ist kein Paar, sondern ein Individuum, es ist die Andere mit ihrem Antlitz. Sie eigentlich empfängt den Besucher, der etwas voreilig zu den Paaren vorgedrungen ist.

 

Gerade bei der jungen Frau werden am Anfang des Rundgangs die zentralen Begriffe Erinnerung, Gedächtnis[6] und Individualität[7] von der Künstlerin thematisiert. Wer die junge Frau ist, die lächelnd in einer Winterlandschaft vor einer Lichtung steht, welchen Weg sie zurückgelegt und welche Spuren sie dabei hinterlassen hat, bleibt unklar und wird niemals gelöst werden können; aber dass sie Spuren hinterlassen hat, zumindest räumlich im Schnee und plötzlich jetzt in der kurzfristigen Erinnerung des Betrachters, ist sofort klar, ohne den Eindruck einer Klarheit beim Betrachter zu hinterlassen. Der Passant schaut in das Gesicht der jungen Frau und bemerkt bestürzt, sie schaut auch mich an. Der Dialog mit der Installation der Künstlerin und mit Emmanuel Lévinas hat rückwirkend und reflexiv begonnen.

 

„Der Andere, der sich im Antlitz manifestiert, durchstößt gewissermaßen sein eigenes plastisches Wesen wie ein Seiendes, das das Fenster öffnet, auf dem indes seine Gestalt sich schon abzeichnet. Seine Anwesenheit besteht darin, sich der Form zu entledigen, die ihn gleichwohl manifestiert. Seine Erscheinung ist ein Mehr über die unvermeidliche Erstarrung der Erscheinung hinaus. Dies drückt die Formel aus: Das Antlitz spricht. Die Erscheinung des Antlitzes ist die erste Rede. Sprechen ist vor allem anderen diese Weise, hinter seiner Erscheinung, hinter seiner Form hervorzukommen, eine Eröffnung in der Eröffnung.“[8]  

 

Das Antlitz der Anderen begegnet dem Betrachter, ihre „Gegenwart besteht darin, auf uns zuzukommen, einzutreten.“[9] Was vorläufig als Abbildung bezeichnet wurde, könnte nun auch als eine Wiedergabe, besser als Wieder-Gabe bezeichnet werden. Tanja Leonhardt gibt der jungen Frau durch die Darstellung eine Identität zurück und fordert das Publikum der Installation auf, sich auf ihre mögliche Biographie einzulassen. Durch diese Begegnung findet eine Unterbrechung, eben ein Zurückbiegen, im Reflexionsprozess statt.

 

Schauplatz der Schrift

Schriften von Hand

 

„Die handgeschriebenen Texte geben der Spekulation eine Richtung. Eine/r der Portraitierten, zumeist die Frau, bewertet die Situation rückblickend. Sie nimmt noch einmal Stellung zu ihrer Vergangenheit, deren Schlüsselmoment im Bild festgehalten ist. Sie schreibt auf, was ihr durch den Kopf geht, was übrig geblieben ist am Ende des Wegs. Sie nimmt wieder Kontakt auf mit der Person auf dem Bild, dem Mädchen mit dem Schleier, das einmal sie war.“[10]

 

Zu den Gedächtnisbildern treten gleichberechtigt Gedächtnisschriften hinzu und erzeugen Seelenlandschaften, in denen sich der Betrachter verliert. Auch hier wird die Individualität der Handschrift thematisiert, genauer die der Anderen. Ein komplizierter Vorgang, ist doch Schrift an sich im Gegensatz zum gelesenen Text für den Betrachter ein stummer Partner im Akt des Lesens und scheint sich einem dialogischen Austausch zunächst zu verweigern. Die reine Schrift gibt dem Leser keine Antworten, zumal dann, wenn der semantische Zusammenhang unklar erscheint. Dadurch entstehen Fragen, gerade wenn kein Klartext geboten wird und Schrift auf Ungesagtes und Unaussprechliches verweist. Indem Tanja Leonhardt die Photos der Hochzeitspaare beschriftet, bindet sie den Betrachter in das Schicksal dieser anderen Menschen ein, mehr noch, sie gibt den Frauen durch die Handschrift eine Stimme, die zu den Zuschauern spricht.

 

Damit verbunden sind Überlegungen zum Medium der Potskarte. Sie erzählt oft von den geglückten Momenten im Leben, besonders ihre Ankunft im Briefkasten des Empfängers nach einer Zeit des Wartens und die vertraute Handschrift des Abwesenden werden in der Installation thematisiert. Es mutet paradox an, dass die Künstlerin die Fundstücke dem Internet entnommen hat. Entscheidend in diesem Zusammenhang ist allerdings, dass auch hier die Handschrift als solche in den Kontext von Gedächtnis und Erinnerung gebracht wird. Somit ist jede Signatur und Schrift einzigartig und untrennbar mit einer Lebensgeschichte verbunden.

 

Könnte man somit von einer Kunst sprechen, die eine Botschaft, gar eine politische, vermitteln will? Ist die Installation als ein Mahnmal zu verstehen? Wohl kaum, denn „Die Spur der Anderen“ stellt mehr Fragen, als dass eindeutige Antworten gegeben werden. Der Lebenslauf der Menschen wird nicht als eine Anleitung zum richtigen Leben präsentiert, sondern bleibt in seinen Verästelungen und Spuren unvorhersehbar. Auch werden die Menschen nicht benannt, sie bleiben unbekannt, aber gerade durch diese Andersheit in ihren individuellen Lebenswegen öffnen sie einen unendlichen Horizont und verbleiben in einer Rätselhaftigkeit. Der Betrachter ist mit dem Anderen verbunden, ohne dass eine Vereinnahmung entsteht. Damit kann man mit Emmanuel Lévinas hier von einem ethischen Ansatz sprechen:

 

„Für das Ich eine solche Ausrichtung entdecken, heißt zugleich, Ich und Sittlichkeit identifizieren. Vor dem Anderen ist das Ich unendlich verantwortlich. Der Andere, der im Bewußtsein diese ethische Bewegung hervorruft und der das gute Gewissen der Koinzidenz des Selben mit sich selbst durcheinanderbringt, bringt einen Zuwachs mit sich, der der Intentionalität nicht entspricht. Dies ist das Begehren: von einem anderen Feuer verzehrt werden als dem des Bedürfnisses, das die Sättigung löscht; über das hinaus denken, was man denkt. Wegen dieses nicht assimilierbaren Zuwachses, wegen dieses Jenseits, haben wir die Beziehung, die das Ich mit dem Anderen verbindet, Idee des Unendlichen genannt.“[11]

 

Auch durch die Verwendung verschiedener Handschriften findet beim Zuschauer ein Reflexionsprozess statt. Dabei kann er auch über sein Verhältnis zu der Handschrift naher Angehöriger nachdenken. Durch dieses geistige Zurückbiegen vor den Seidenbildern werden die Schriften so nicht zu Botschaften, sondern eher zu Mitteilungen, besser zu Mit-Teilungen, zu Seiensbildern ohne klare Raum- und Zeitkoordinaten in der Erinnerung  und im Gedächtnis des Betrachters. Nicht nur der Andere, auch der Nächste erscheint nah und fern zugleich.

 

Außen und innen

Reflexion der Reflexion

 

„Diese Weise des Anderen, um meine Anerkennung nachzusuchen und dennoch zugleich das Inkognito zu wahren, die Zuflucht zum einverständlichen oder komplizenhaften Augenzwinkern zu verschmähen, diese Weise, in Erscheinung zu treten, ohne zu erscheinen, nennen wir – unter Bezug auf die Etymologie dieses griechischen Wortes und im Gegensatz zum siegreichen und indiskreten Erscheinen des PhänomensEnigma, Rätsel.“[12]

 

Die Installation ist kein hermetischer Block, sondern begehbar. Betritt der Besucher das Werk, so sieht er sich mit einer Reflexion der Reflexion konfrontiert. Die Schriftbilder verwandeln sich in einen Erinnerungsspiegel. Dadurch gewinnen die Bilder an Rätselhaftigkeit und Intensität. Durch die Transparenz der Seide entsteht in dem spiegelverkehrten Raum ein Gefühl von Transzendenz. Ist die Betrachtung von außen einer Reflexion über Zeit, Raum, Erinnerung und Gedächtnis ausgesetzt, so setzt hier im Innern der Installation eine Reflexion genau dieser vorangegangenen Reflexion ein, gleich einer zweiten Unterbrechung räumlicher und zeitlicher Koordinaten. Der Betrachter ist in diesem Bereich, in einem Zwischenraum ästhetischer Betrachtung und Erfahrung, nicht eben gefangen, sondern mit ihm verbunden. Er ist im Dialog allein mit sich, den Seinigen und den Anderen.

 

Dabei wird durch die Transparenz der Installation ein Blick von innen nach außen gewährt. Hier sieht man nicht nur die junge Frau in der Schneelandschaft, sondern daneben auch eine Seidenfahne, auf der das Antlitz einer Samurai–Maske zu erahnen ist, die für die Endlichkeit menschlichen Lebens steht. Die Maske demaskiert keinesfalls die Gesichter in ihrer individuellen Andersheit, sie verweist den Besucher des Zwischenraumes nur auf eine weitere, neben der Geburt besonders rätselhafte Spur im menschlichen Leben, der des eigenen Todes, der der Endlichkeit des Einzelnen und aller Anderen.   

 

In ihrer Arbeit „Spiegelschrift“ hat die Künstlerin Tanja Leonhardt ein Zitat von Emmanuel Lévinas eingefügt, das der unendlichen Annährung an die Installation „Die Spur der Anderen“ innerhalb dieser Reflexionen zumindest hinreichend, aber niemals notwendig gerecht werden könnte:

 

„Als wäre das Zugehen auf den anderen

mein Zusammentreffen mit mir

und eine Einpflanzung in nun mehr heimatliche Erde,

befreit vom ganzen Gewicht meiner Identität.“ 

____________________________________________

[1] Die Installation wurde im Rahmen der Ausstellung „Schrift Berührt“ vom 20.04.2007 bis 03.06.2007 im Klingspor Museum in Offenbach gezeigt.

[2] Definition hier gemeint in der Wortbedeutung als eine Abgrenzung und eine möglichst eindeutige Bestimmung oder Festlegung der Bedeutung eines Begriffes.

[3] Reflexion im Sinne der gedanklichen Tätigkeit eines sich Zurückbeugens, -biegens, und –krümmens angesichts der Installation; die doppelte Reflexion reflektiert diesen Vorgang dann noch einmal. Dies kommt auf den Standpunkt des Betrachters an, die Installation ist nämlich auch im Innern begehbar.  Dazu weiter unten mehr.

[4] Tanja Leonhardt zu ihrer Installation in der Ausstellung im Klingspor Museum.

[5] Die Installation ist meiner Ansicht nach keine Radikalkritik gegenüber dem Medium des Internets, vielmehr sollen hier Grenzen und Möglichkeiten der Darstellung im realen gegenüber dem medialen Raum ausgelotet werden. 

[6] Diese sind in den Arbeiten von Tanja Leonhardt meiner Ansicht nach zentral und können mit Aleida Assmanns Ausführungen zu dem Thema weitergedacht werden. Aleida Assmann bemerkt dazu: „Verbleiben wir auf dem Boden des alltäglichen Sprachgebrauchs, dann erscheint Gedächtnis als virtuelle Fähigkeit und organisches Substrat neben Erinnerung als aktuellem Vorgang des Einprägens und Rückrufens spezifischer Inhalte. Wer sich das einmal klargemacht hat, der wird zugleich feststellen, daß sich beide „Pole“ nicht ohne Schaden voneinander trennen lassen. Statt Gedächtnis und Erinnerung als Begriffsopposition zu definieren, sollen sie hier vielmehr als Begriffspaar, als komplementäre Aspekte eines Zusammenhangs aufgefaßt werden, die in jedem Modell gemeinsam auftauchen.“ In: „Gedächtnisbilder – Vergessen und Erinnern in der Gegenwartskunst.“ Hrsg. von Kai-Uwe Hemken, Leipzig 1996, S.17.

[7] Individualität verstanden im Sinne der allgemeinen Übersetzung des Individuums als etwas Unteilbares, als konkrete Person, verbunden mit einem Wissen von sich selbst. [Dabei sollen die Probleme dieser ontologischen Definitionsversuche nicht vernachlässigt werden, könnten allerdings an anderer Stelle formuliert werden.]

[8] Emmanuel Lévinas: „Die Spur des Anderen – Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie.“ Übersetzt, herausgegeben und eingeleitet von Wolfgang Nikolaus Krewani. Verlag Karl Alber,   Freiburg/München 1983, S.221.

[9] Ebd.

[10] Tanja Leonhardt über ihr Buchprojekt „abgeklatscht“, das 2006/07 entstanden ist.

[11] Emmanuel Lévinas: „Die Spur des Anderen – Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie“, S.225.

[12] Ebd., S.246.

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Peter Kropp, geboren 1971, studierte Germanistik und Philosophie.

 

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